Dokument-Nr. 9833
Sartorius, Mathilde an Pius XI.
Berlin, 22. November 1922

Hochverehrter Herr Papst!
Gestern sah ich in der Lesehalle die Illustrirte [sic] Zeitung durch und da fand ich eine Ansicht des Vatikans mit Ihrer werthen Person. Es waren noch schöne Zeiten als auch ich dort war, Papst Leo die Hand küßte und seinen Segen empfing. Die Menschen waren noch nicht so rebellisch wie heute und man konnte für wenig Geld in Italien weilen. Die Zeiten haben sich geändert und die Menschen noch mehr. Das Elend ist so groß, daß man es kaum beschreiben kann und daß man es kaum noch ertragen kann. Menschen die früher mit ihrem kleinen Vermögen ganz gut leben konnten, sind heute thatsächlich Bettler. – Ich z. B. gehöre zu den verschämten Armen – die ihre Armuth so lange wie möglich verstecken und verdecken. Mein verstorbener Mann war Offizier, Oberstleutnant a. D. als wir uns verheiratheten, und da er nicht mehr im Dienst war, habe ich auch kein [sic] Anspruch auf Pension – trotzdem habe ich es schon viermal versucht eine zu erreichen, doch stets vergebens – der Staat ist eben sehr arm und thut nur, was er eben muß – er läßt einem [sic] thatsächlich verkommen. Mir geht es nun ganz besonders schlecht, habe in den traurigen Tagen mein kleines Vermögen bis auf 7.000 MK, welches in Aktien steckt, verbraucht ebenso habe ich schon meine ganzen
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Schmucksachen veräußert, um mich über Wasser zu halten. – Ich bin 61 Jahre, u. möchte diese 7.000 MK. doch nicht auch noch verkaufen, denn ich kann ja vielleicht noch lange leben und würde dann wirklich auf der Straße elend verkommen müssen wenn ich diese Papiere eben verkaufen würde. Ich habe einen Stiefsohn, der auch Offizier Hauptmann war, und durch den Krieg auch umsatteln mußte – er giebt [sic] mir monatlich eine kleine Unterstützung denn viel hat er ja auch nicht. Da können Sie sich wohl denken hochverehrter Herr Papst in welcher traurigen Lage man sich befindet und wie man sich Tag und Nacht den Kopf zerbricht was aus einem werden soll – Die Preise sind so entsetzlich hoch daß man sich nur an Kartoffeln u. Brot satt essen darf – 10 [Pfund] Kartoffeln kosten 78 MK, Brot 112. MK, Margarine über 1000. kann man sich natürlich nicht kaufen, man muß alles ohne Fett kochen – Fleisch und Wurst sind unerschwinglich Spiritus, worauf ich mein bischen [sic] Essen koche der Lieter [sic] 440 MK. Kohlen der Centner 900 MK. Dabei bekommt man nur sehr wenig – weil uns die Franzosen alles wegnehmen u. wir sitzen im kalten Zimmer – Ich habe ein kleines sehr einfaches möbl. Zimmer im Hinterhaus im 3 Stock und zahle dafür 650 MK. im Monat. Die Preise spotten jeder Beschreibung dabei steigen sie mit jedem Tage Was noch werden wird, weiß man nicht und man ist der Verzweiflung nahe – weiß weder ein noch aus, denn so kann es unmöglich weiter gehen Ach Herr Papst, wie ich Gott anflehe mir zu helfen. und wie ich so recht inbrünstig gebetet habe,
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er möchte mir doch ein Fingerzeig geben wohin ich mich wenden soll. erschien mir in der Nacht im Traum Ihr Bild aus der Illustrirten-Zeitung. – Darauf hin habe ich mir nun ein Herz gefasst hoch verehrter Herr Papst und bitte Sie aus vollem Herzen, nehmen Sie sich meiner doch an und helfen Sie mir. Vielleicht dürfte ich um eine monatliche Unterstützung bitten. Aber es ist mir Alles [sic] recht – nur darf es nicht öffentlich bekannt werden – u. ich würde da sogar recht herzlich darum bitten, mir Ihre werthe Antwort durch Einschreibebrief zu geben. Wäre die Reise nicht so weit und so theuer – so würde ich meine letzten paar Groschen hergeben um persönlich mit Ihnen Herr Papst zu sprechen und mir Ihren Segen zu erbitten – Aber so ist es mir ein stiller Wunsch. – Ich habe diesen alten Briefumschlag extra genommen falls Sie Herr Papst feststellen wollen, daß ich wirklich keine Pension beziehe – Die Adresse steht immer im Couvert Und falls ich vielleicht auf's Konsulat kommen soll um fest zu stellen ob ich auch würdig bin, dann bitte recht sehr Order zu geben, daß man mir hier keine Postkarte schreibt denn ich möchte nicht daß meine Umgebung etwas davon
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merkt. Nun hoch verehrter Herr Papst werden Sie mich gewiß für sehr unverschämt halten – aber es ist wirklich nur die größte Noth die mich dazu zwingt, u. Ihr Beruf bringt es wohl mit sich die Sache etwas milder anzusehen. Ich flehe zu Gott, daß er Ihnen ein mitfühlendes Herz für mich geben möchte, und mir in meine [sic] traurigen Lage helfen. Inzwischen mit
vorzüglicher Hochachtung
ergebenst
Frau Mathilde Sartorius
201v, hds. Am linken Seitenrand von der Verfasserin notiert: "Meine Tinte ist so schlecht u – bitte daher um Entschuldigung.".
Empfohlene Zitierweise
Sartorius, Mathilde an PiusXI. vom 22. November 1922, Anlage, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Dokument Nr. 9833, URL: www.pacelli-edition.de/Dokument/9833. Letzter Zugriff am: 26.04.2024.
Online seit 31.07.2013, letzte Änderung am 29.09.2014.