Verhandlungen über ein Reichsschulgesetz 1920-1924

In der Weimarer Reichsverfassung wurde die Frage nach der Rolle der Religion und der Religionsgesellschaften in der Schule nicht endgültig entschieden. Es wurde lediglich ein Verfassungskompromiss vereinbart, demzufolge die bestehenden Konfessionsschulen bis zur Verabschiedung eines Reichsschulgesetzes bestehen blieben. Insbesondere die Artikel 146, Absatz 1 und 2, sowie Art. 174 waren hier relevant.
Die Schulfrage bildete einen Streitpunkt unter den Parteien, der Konfliktlinien jenseits der Unterscheidung zwischen Anhängern und Gegnern der Verfassung erzeugte. Mehrheits- und Unabhängige Sozialdemokraten (MSPD und USPD) sowie die Deutsche Demokratische Partei (DDP) bevorzugten ein weltliches Schulwesen, Bayerische Volkspartei (BVP), Deutsche Volkspartei (DVP) und Deutschnationale Volkspartei (DNVP) präferierten ein konfessionelles Schulwesen. Die Zentrumspartei (Z), die zusammen mit MSPD und DDP die Verfassung trug, teilte in der Schulfrage die Position der rechten Parteien. Die rigorose Haltung der Katholischen Schulorganisation und des Episkopats hinderte das Zentrum und ihren Verhandlungsführer Wilhelm Marx an einem Kompromiss zwischen christlicher Weltanschauung und realpolitischen Erfordernissen. Die Rücksicht auf die katholische Diaspora in Norddeutschland stand wiederum der Alles-oder-nichts-Taktik auf Grundlage des Sperrartikels 174 entgegen.
Die Arbeit am Reichschulgesetz begann noch während die Nationalversammlung tagte. Das Reichsministerium des Innern unter Erich Koch-Weser (DDP) begann bereits im Oktober 1919 auf Grundlage eines Referentenentwurfs mit den Vorarbeiten. In Zusammenarbeit mit den Kultusministern der Länder und unter der Beratung des Reichsschulausschusses, der aus Vertretern der Unterrichtsverwaltung der Länder und kommunalen Spitzenverbänden bestand, wurde unter Federführung des sozialdemokratischen Staatssekretärs im Reichsministerium des Innern Heinrich Schulz ein Regierungsentwurf erarbeitet, der am 30. Januar 1921 dem Reichskabinett unter Reichskanzler Constantin Fehrenbach (Z) zur Beschlussfassung vorgelegt wurde. Die Uneinigkeit über die Auslegung des Begriffs "geordneter Schulbetrieb" (Art. 146 WRV) und die durch zwischenzeitliche Reichs- und Landtagswahlen bedingte fehlende Kontinuität der Verhandlungen verhinderten, dass das ursprüngliche Ziel erreicht wurde, das Gesetz vor der Auflösung der Nationalversammlung am 21. Mai 1920 zu verabschieden.
Am 22. April 1921 erteilte der Reichsrat seine Zustimmung und das Gesetz wurde dem Reichstag übersandt. Dieser begann aber aufgrund der innen- und außenpolitischen Krisen – die Londoner Reparationskonferenz, das Londoner Ultimatum, der Rücktritt Fehrenbachs und die Ermordung Matthias Erzbergers sind hier zu nennen – erst Ende Januar 1922 mit den Beratungen. Der "Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Artikels 146 Absatz 2 der Reichsverfassung" (Dokument Nr. 3863) sah insbesondere eine bevorzugte Stellung der Gemeinschaftsschule vor. Vor allem bestand Uneinigkeit über die Definition der Gemeinschaftsschule und den Status der Bekenntnis- bzw. bekenntnisfreien Schule. Auch über den Begriff "geordneter Schulbetrieb" und seine nähere Auslegung durch Landesrecht gab es weiterhin keinen Konsens. Weitere Streitpunkte bildeten die Regelung des Religionsunterrichts, der Lehrerbildung und des Privatschulwesens. Pacelli, der die Verhandlungen um das Gesetz stets im Blick hatte und um seine Bedeutung für die Verhandlungen um ein Konkordat mit Bayern wusste, berichtete Gasparri am 28. Mai 1921 ausführlich über den Gesetzentwurf (Dokument Nr. 272).
Der Entwurf wurde in den Bildungsausschuss verwiesen. Als auch dort keine Einigung zu erzielen war, begannen im Sommer interfraktionelle Beratungen zwischen MSPD, DDP und Zentrum. Diese beauftragen Staatssekretär Schulz, eine neue Fassung des Entwurfs zu verfassen. Er war im September 1922 fertig, jedoch entzog der Rücktritt des Kabinetts unter Reichskanzler Joseph Wirth (Z) im November 1922 den Beratungen des interfraktionellen Ausschusses die Grundlage.
Unter der neuen Bürgerblock-Regierung aus DDP, Z, BVP und DVP unter dem parteilosen Wilhelm Cuno zog der neue Innenminister Rudolf Oeser (DDP) den Entwurf nicht zurück, doch wurden die Sozialdemokraten und Staatssekretär Schulz von den informellen Beratungen der Regierungsparteien ausgeschlossen, was eine aggressive Opposition provozierte. Der Entwurf wurde überarbeitet und das konfessionelle Element gestärkt. Insbesondere die Gemeinschaftsschule sollte christlich-religiöse Grundlagen erhalten. Die Verhandlungen über den neuen Entwurf im Bildungsausschuss zogen sich von Februar bis Juli 1923 hin. Durch die Obstruktion der Sozialdemokraten und die Ablehnung weitreichender Zugeständnisse an die Religionsgesellschaften durch die DDP verliefen die Verhandlungen im Sande. Am 6. Juli vertagte sich der Ausschuss auf unbestimmte Zeit.
Aufgrund des unbefriedigenden Verlaufs der Verhandlungen um das Reichsschulgesetz machten allerdings die Länder Druck und insbesondere das sozialdemokratisch regierte Preußen verlangte, dass bei einem Scheitern ein Notgesetz erlassen werde, das die Regelung der Schulfrage auf Länderebene erlauben sollte – notfalls gegen Artikel 174 der Reichsverfassung. Der Episkopat war aber prinzipiell nicht zu Zugeständnissen an die DDP bereit und auch ein Kompromissantrag der DVP vom Juli 1923 scheiterte. In Bayern nutzte die von der BVP angeführte Regierung die Situation, um die Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl um ein Bayernkonkordat voranzutreiben. Es wurde 1924 abgeschlossen, bevorzugte die Konfessionsschule und machte den Religionsunterricht in allen Schulgattungen obligatorisch.
Auch unter der von August bis November 1923 regierenden Großen Koalition aus SPD, DDP, Z und DVP unter Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP) gab es kein Weiterkommen. Im Februar 1924 teilte Reichsinnenminister Karl Jarres (DVP) mit, dass infolge eines Beschlusses der Verwaltungsabbaukommission die Durchführung des Schulgesetzes bis auf Weiteres aus finanziellen Gründen nicht möglich sei. Damit war der erste Reichsschulgesetzentwurf endgültig gescheitert.
Quellen
Die Schule in der Reichsverfassung, in: Kölnische Volkszeitung Nr. 319 vom 28. April 1921; Dokument Nr. 3863.
Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Artikel 146 Abs. 2 der Reichsverfassung. 22. April 1921, in: Verhandlungen des Reichstags. I. Wahlperiode, Bd. 366: Anlagen zu den Stenographischen Berichten Nr. 1640 bis 1894, Nr. 1883, S. 1613-1628, in: www.reichstagsprotokolle.de (Letzter Zugriff am: 26.07.2013).
Entwurf Schulz / Koch, in: GEISSLER, Walter (Hg.), Das Werden des Reichsschulgesetzes. Wortlaut der Entwürfe 1921-1928 und ihre Begründungen (Schulpolitische Handbücherei 5), Dresden 1928, S. 12-28.
Pacelli an Gasparri vom 28. Mai 1921; Dokument Nr. 272.
Literatur
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GENTSCH, Dirk H., Zur Geschichte der sozialdemokratischen Schulpolitik in der Zeit der Weimarer Republik. Eine historisch-pädagogische Analyse zur Schulpolitik der SPD in Deutschland in den Jahren von 1919 bis 1933. Eine Studie (Europäische Hochschulschriften XI 569), Frankfurt am Main u. a. 1994, S. 57-80.
GROSSPIETSCH, Lydia, Schulpolitik (Weimarer Republik), in: www.historisches-lexikon-bayerns.de (Letzter Zugriff am: 26.07.2013).
GRÜNTHAL, Günther, Reichsschulgesetz und Zentrumspartei in der Weimarer Republik (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 39), Düsseldorf 1968, S. 114-144.
HEHL, Ulrich von, Wilhelm Marx 1863-1946. Eine politische Biographie (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 47), Mainz 1987, S. 181-188.
HUBER, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart 1981, S. 950-952.
RICHTER, Ludwig, Kirche und Schule in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung (Schriften des Bundesarchivs 47), Düsseldorf 1996.
Empfohlene Zitierweise
Verhandlungen über ein Reichsschulgesetz 1920-1924, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 3082, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/3082. Letzter Zugriff am: 23.11.2024.
Online seit 04.06.2012, letzte Änderung am 20.01.2020.
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