Scholastische Philosophie und Theologie / Scholastik / Neuscholastik
Man hat versucht, die Scholastik näher zu bestimmen, indem man ihr eine doktrinäre Synthese und eine Einheit der Lehrinhalte, eine gemeinsame Methode oder eine bestimmte Denkform zuschrieb. Darüber hinaus ist die Komplexität der Scholastik festzuhalten, die sich insbesondere in ihrer Tendenz zur Verwissenschaftlichung zeigt.
Als Katalysator der Verwissenschaftlichung fungierten die frühmittelalterlichen städtischen Domschulen und dann seit Ende des 12. Jahrhunderts die neu entstehenden Universitäten (besonders in Paris und Bologna). Gegenstand der Scholastik sind Texte mit autoritativem Charakter und exponiertem Geltungsanspruch, so die Heilige Schrift, lehramtliche Verlautbarungen, Kirchenväter, Konzilscanones und Gesetzestexte. "Charakteristisch für die Scholastik ist der institutionalisierte Versuch, solche Geltungsansprüche a) dem differenzierenden, begrifflichen Verständnis zugänglich zu machen, b) der kritisch-rationalen Prüfung und der argumentierenden Begründung auszusetzen und c) in ihrem systematischen Zusammenhang zu erfassen, so daß er d) literarisch darstellbar und e) institutionell lehrbar wird" (HONNEFELDER / MÖHLE / SÖDER, S. 201). Um die Geltungsansprüche vor der Vernunft zu verantworten, tritt an die Stelle der bislang gebräuchlichen Bilder und Metaphern der Begriff, an die der Autorität das Argument. Praktisch nimmt die Prüfung die Form einer methodischen Infragestellung des Wissens an ("quaestio") und die Argumentation die Form von Gründen und Gegengründen ("sic et non"). Dem passt sich die Art des universitären Unterrichts an, der von "lectio" und "disputatio" geprägt wird und folgt die literarische Darlegung der Lehre in Kommentaren und Quaestionenliteratur.
Die Notwendigkeit zu einer Verwissenschaftlichung der kirchlichen Glaubenslehre und ihre systematisch-logische Durchdringung wurden besonders seit dem 9. Jahrhundert relevant. Methodisch versuchte man dies mit der aus der antiken Überlieferung rezipierten Dialektik (Logik) zu erreichen (Peter Abaelard). Die Wiederentdeckung des "ganzen" Aristoteles im 12. Jahrhundert, welche die Theologie mit dem aristotelischen Wissenschaftsbegriff und Metaphysik konfrontierte, zwang sie zur wissenschaftlichen Selbstvergewisserung. Sie wurde gegen eine rein philosophische Metaphysik abgegrenzt, in eigenständigen Gesamtentwürfen dargelegt (Summenliteratur) und gegenüber den bis dahin propädeutisch angelegten "Artes liberales" verselbständigt. Die Verhältnisbestimmung der somit entstehenden eigenen philosophischen Disziplin zur Theologie bildete eine gewichtige Frage dieser Zeit. Die Wiederaufnahme und fortführende Systematisierung der mittelalterlichen Scholastik wurde vornehmlich in der spanischen Barockscholastik des 16. Jahrhunderts geleistet, die sich besonders an Thomas von Aquin orientierte.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte die Wiederaufnahme der Scholastik ein. Sachlich charakterisierte sich die Neuscholastik – sowohl im Selbstverständnis als auch in der Außenperspektive – durch die Vorstellung, dass "die Möglichkeit einer wahren katholischen Theologie und Philosophie nur im Rückgang auf die klassische Tradition der Kirche, vor allem auf das 13. Jahrhundert" (SCHMIDINGER, Scholastik, S. 50) zu erreichen sei. Der Neuscholastik gilt die "neuzeitliche Philosophie und überhaupt das moderne Geistesleben als ein durch den Protestantismus verursachte[r] Irrweg [...], den die kirchliche Wissenschaft ignorieren kann und muss" (Ebd.).
Der Neuscholastik (in genuin neuthomistischer Ausprägung) verhalf Papst Leo XIII. vor allem mit der Enzyklika "Aeterni Patris" vom 4. August 1879 zum Durchbruch. Neben dieser programmatischen Enzyklika unterstützte er die Neuscholastik mit der Absetzung missliebiger Professoren an römischen Lehranstalten, der Gründung der "Accademia Romana di S. Tommaso" und der "Editio Leonina" der Werke des Thomas von Aquin. Auch die nachfolgenden Päpste, Pius X., Benedikt XV. und Pius XI., schlossen sich Leos Förderung des Thomismus an. In Deutschland bildeten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem die Priesterseminare in Eichstätt und Mainz, sowie die Universität Würzburg die ersten Zentren einer an die römische Schule des Collegium Germanicum angelehnten neuscholastischen Ausbildung. Eine solche Ausrichtung wurde etwa durch eine geschickte Personalpolitik erreicht, indem mehrere in Rom ausgebildete Theologen zu Professoren in den jeweiligen Einrichtungen berufen wurden. Diese neuscholastische Tendenz wurde durch die Modernismuskrise des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts verstärkt, indem Pius X. einer an der neuzeitlichen Philosophie bzw. an der Geschichtswissenschaft orientierten Theologie eine scharfe Absage erteilte. Unter Benedikt XV. wurde das Studium der Philosophie des heiligen Thomas auch kirchenrechtlich im CIC/1917 (can. 1366) verankert. Am 27. Juni 1914 wurde ein Dekret der Studienkongregation erlassen, in dem vierundzwanzig Thesen der thomistischen Philosophie als Leitnormen aufgestellt wurden. Von dieser Warte aus betrachtet genügte die deutsche Theologie nach wie vor nicht den gesetzten Zielvorstellungen. So wurde Pacelli – selbst ein gemäß seiner Ausbildung am Seminarium Romanum strikt neuscholastisch denkender Theologe – in seiner Position als Nuntius mit den Vorbereitungen einer umfassenden Reform des Theologiestudiums in Deutschland nach römischem Vorbild betraut. Als Höhepunkt des Strebens nach einer Uniformisierung der Priesterausbildung im neuscholastischen Sinne entstand die Konstitution "Deus scientiarum Dominus" Pius' XI. vom 24. Mai 1931, die auf der Anwendung der scholastischen Methode in den kirchlichen Lehreinrichtungen insistierte (Art. 29a).
Quellen
Enzyklika "Aeterni Patris" 1879, in: Actae sanctae sedis 12 (1879/80), S. 98-114,
in: www.vatican.va (Letzter Zugriff am: 10.02.2016).
Dekret der Studienkongregation 1914, in: Acta Apostolicae Sedis 6 (1914), S. 384-386, in: www.vatican.va (Letzter Zugriff am: 10.02.2016).
1917 Codex Iuris Canonicis, can. 1366, in: www.jgray.org (Letzter Zugriff am: 14.06.2016).
Codex Iuris Senior, can. 1366, in: www.catho.org (Letzter Zugriff am: 14.06.2016).
GASPARRI, Pietro (Hg.), Codex Iuris Canonici Pii X Pontificis Maximi iussu
digestus, Benedicti Papae XV auctoritate promulgatus, Rom 1917,
can. 1366, in: www.archive.org (Letzter Zugriff am: 14.06.2016).
Konstitution "Deus scientiarum Dominus" 1931, in: Acta Apostolicae Sedis 23 (1931), S. 241-262, in.
www.vatican.va (Letzter Zugriff am: 10.02.2016).
Literatur
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Breisgau 1909/1911, ND Berlin 1956 .
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PEITZ, Detlef, Die Anfänge der Neuscholastik in Deutschland und Italien (1818-1870),
Bonn 2006.
PIEPER, Josef, Scholastik. Gestalten und Probleme der mittelalterlichen Philosophie,
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SCHATZ, Klaus, Zwischen Säkularisation und Zweitem Vatikanum. Der Weg des deutschen
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SCHMIDINGER, Heinrich M., "Scholastik" und "Neuscholastik" – Geschichte zweier
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SCHMIDINGER, Heinrich M., Neuscholastik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 6
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SCHÖNBERGER, Rolf, Was ist Scholastik?, Hildesheim 1991.
UNTERBURGER, Klaus, Vom Lehramt der Theologen zum Lehramt der Päpste? Pius XI.,
die Apostolische Konstitution "Deus scientiarum Dominus" und die Reform der
Universitätstheologie, Freiburg im Breisgau / Basel / Wien 2010.
Empfohlene Zitierweise
Scholastische Philosophie und Theologie / Scholastik / Neuscholastik, in: 'Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis (1917-1929)', Schlagwort Nr. 28057, URL: www.pacelli-edition.de/Schlagwort/28057. Letzter Zugriff am: 26.12.2024.Document(s) related to this keyword
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